Vor dem Pub „Oak Tree Inn” in der Ortschaft Balmaha am südlichen Ufer des Loch Lomond sitzen die Gäste draußen in der Sonne. Ihre Wanderstöcke haben sie gegen die Bänke gelegt. Eine Gruppe Fahrradfahrer fährt laut klingelnd auf der Straße vorbei. Derek Dawson, Ranger im Trossachs Nationalpark , hat sich ein Bier bestellt. Er sitzt unter der 500 Jahre alten Eiche, die dem Pub ihren Namen gegeben hat. Derek nimmt einen Schluck aus seinem Bierglas, lehnt sich bequem zurück und schaut über den See. „Die Landschaft des Trossachs ist einmalig”, sagt er.
Der Trossachs ist der älteste Nationalpark Schottlands. Eine Wald gewordene Verschaufpause vom Alltag. Berge und Seen beherrschen die fast 1900 Quadratkilometer große Szenerie. Im Sommer liegt der Duft von Baumharz in der Luft. Über dem dunklen Grün der Baumwipfel leuchten in der Ferne die weißen Gipfel der Highlands. „Der Trossachs ist etwas für alle diejenigen, die die Natur in ihrer ganzen Ursprünglichkeit erleben wollen”, berichtet ein begeisterter Besucher im Jahr 1791. Man kann mit gutem Grund behaupten, dass der schottische Tourismus im Trossachs erfunden wurde.
Das Zentrum des Trossachs ist der See Loch Lomond, vielfach besungen und gefeiert in Liedern und Gedichten. Das Lied von den „heiteren Ufern des Loch Lomond” („bonny banks of Loch Lomond”) lernen die Kinder schon in der Schule. Der Schriftsteller Sir Walter Scott kam an den See, um für seinen Roman „Rob Roy” über den gleichnamigen schottischen Rebellen zu recherchieren. Der deutsche Komponist Felix Mendelssohn-Bartholdy (1809-1847) wäre bei einem Ruderausflug auf dem See fast gekentert. Mendelssohn war trotz des kleinen Malheurs von der schottische Landschaft so begeistert, dass er nach seiner Rückkehr die Ouvertüre „Die Hebriden” komponierte.
Schon immer hat der Trossachs Reisende fasziniert. Der Nationalpark bietet rund 200 Vogelarten sowie seltenen Pflanzen eine Heimat. Es gibt zahllose Freizeitmöglichkeiten, und Loch Lomond ist nur einer von vielen Seen, die einen Ausflug lohnen. Doch das wahre Geheimnis des Trossachs liegt tief im Erdreich verborgen: Nur wenige Meter vom „Oak Tree Inn” entfernt, wo Derek in der Sonne sitzt und sein Bier genießt, fangen aus geologischer Sicht die Highlands an.
Die Gäste des Pubs sitzen quasi auf einer 470 Millionen Jahre alten Bruchkante, die die Highlands von den Lowlands trennt. Diese Erdfalte ist der Highland Boundary Fault. Jeder einzelne der 282 höchsten schottischen Berge, die Munros genannt werden, befindet sich nördlich des Highland Boundary Fault.
Um den Bruch im Erdreich zu sehen, wechseln Besucher vor dem „Oak Tree Inn” einfach auf die andere Straßenseite. Dort befinden sich ein Parkplatz. Er ist der Ausgangspunkt für eine Wanderung auf den nahe gelegenen Conic Hill. Von dort aus erstreckt sich in der Ebene in Richtung Süden die rote, fruchtbare Erde der Lowlands. Nach Norden hin erheben sich die schneebedeckten Gipfel der Highlands. Conic Hill ist auch einer der wenigen Orte in Schottland, wo sich noch immer die Reste eines Millionen Jahre alten Meeresbodens nachweisen lassen, der aufgefaltet wurde, als der Highland Boundary Fault entstand.
Die Inseln im Loch Lomond markieren die Erdfalte. Inchcailloch, Creinch und Inchmurrin liegen entlang des Highland Boundary Faults aufgereiht auf der Wasseroberfläche wie eine Perlenkette. Zahlreiche Fähren und Ausflugsboote sind zu diesen Inseln unterwegs. Doch kein Ausflugsdampfer unternimmt diese Fährdienste so charmant wie das kleine, ehemalige Postboot „Margaret”. Sie liegt gemeinsam mit zwei Schwesterschiffen vertäut im verträumten Hafen der Ortschaft Balmaha. Einen regulären Fährbetrieb gibt es nicht. „Margaret” fährt nur bei Bedarf und bringt ihre Gäste dann zur Insel Inchcailloch, die sich im südlichen Teil des Sees befindet.
Schon seit vier Generationen tuckert die Eignerfamilie Macfarlane mit ihren Holzbooten über den See. Vor rund 150 Jahren wurde der Fährbetrieb von Sandy Macfarlane, dem Ur-Opa des heutigen Besitzers, gegründet. Früher transportierten die Boote keine Touristen zu den Inseln, sondern Lebensmittel, Düngemittel oder die Post.
Auf dieser Fahrt hat „Margaret” sieben Passagiere, die alle draußen sitzen und sich den Fahrtwind durch die Haare wehen lassen. Das kleine Boot stampft, schnaubt und schiebt sich durch die Wellen, die gegen die Bug schwappen. Wenn sich die Bäume am See für einen Moment lichten, ist zur Landseite hin der Fernwanderweg Westhighland Way zu sehen. Auf der Seeseite dümpeln die schicken Jachten wohlhabender Glasgower auf ihren Liegeplätzen. Inchcaillon hat vom Wasser aus betrachtet die Form eines überdimensionalen Maulwurfshügels, auf den „Margaret” nun direkt zusteuert.
Die Insel ist ein Beleg dafür, dass der Trossachs nicht nur die geologische Grenze zwischen den Highlands und den Lowlands markiert, sondern auch eine kulturelle. Zu Zeiten von Queen Victoria muss den Besuchern die glatte Oberfläche des Sees vorgekommen sein wie eine blank polierte Schwelle auf ihrem Weg in das große Unbekannte, in dem Gälisch geprochen wurde und die ungeschriebenen Gesetze der Highlands galten.
Die Insel Inchaillon war fest in der Hand der Clans. Hier bestattete der Clan McGregor seine Toten. Wie es dabei zuging, beschreibt im 18. Jahrhundert ein unbekannter Zeitzeuge mit einigem Erstaunen: „Die meisten Teilnehmer der Beerdigung waren Highlander. Vom ersten bis zum letzten Mann genehmigte sich jeder von ihnen zwanzig Runden eines Getränks, das sie Whisky nannten. Sie waren danach so ausgelassen und munter, dass sie fast vergaßen, den Leichnam zu bestatten.”
Auf den alten Gräbern wachsen nun violette Glockenblumen. Die Ruine einer kleinen Kirche ist im Schatten der alten Eichen kaum zu erkennen. Die vergangenen Jahrhunderte haben eine grüne Schicht aus Moos und Flechten wie feinen Puder auf die Grabsteine gelegt. Doch die Namen und die in Stein gehauene Tiermotive wie Ochsen und Schafe sind noch immer erstaunlich gut zu erkennen.
Der Maulwurfshügel Inchaillon ist zwar nur 85 Meter hoch, doch von oben haben Besucher einen weiten Blick über den See. Dies ist nicht nur das Land der Clans. Derek, der Ranger aus dem Pub „Oak Tree Inn”, kennt viele Geschichten von Whiskyschmugglern, Viehdieben und Schlossbesitzern, die am Loch Lomond zuhause waren.
Der Ranger sieht die Inseln mit anderen Augen als die meisten Besucher. Er weiß, wo die Fledermäuse den Tag verschlafen. Er bemerkt, wenn der Farn am Wegesrand von schweren Wanderschuhen heruntergetreten wurde. Wenn Derek in den Trossachs fährt, hat er nicht etwa ein Zelt dabei oder eine Angel, sondern selbst gebaute Nistkästen. Ohne die Ranger, die als Freiwillige im Nationalpark mithelfen, ließe sich der Besucheransturm wohl nur schwer bewältigen.
Kein anderer Nationalpark in Schottland ist so leicht zugänglich. Der Trossachs liegt vor den Toren Glasgows, und von der Glasgower Innenstadt sind es mit dem Zug bis zum kleinen Bahnhof Balloch am Loch Lomond kaum 90 Minuten. Tausende Besucher strömen an den Wochenenden und im Sommer an den See. Bereits in 1930er Jahren wurde überlegt, wie sich die richtige Balance zwischen dem alljährlichen Besucheransturm und den Belangen der Natur finden ließe. Doch es dauerte weitere 70 Jahre, bis der Nationalpark 2002 eröffnet wurde.
Auch der beliebte und viel frequentierte Fernwanderweg Westhighland Way führt an der Ostseite des Loch Lomond direkt durch den Nationalpark. Der Westhighland Way wurde nach rund 20-jähriger Planungs- und Bauzeit in 1980 eröffnet und hat seitdem alle Erwartungen übertroffen.
Er verläuft über 154 Kilometer von Milngavie bei Glasgow nach Fort William an der Westküste. Sein besonderer Charme besteht darin, dass er sich den natürlichen Gegebenheiten anpasst. So wurden für den Wegbau zum großen Teil alte Militärstraßen, Hirtenwege und Whiskyschmugglerpfade genutzt.
Was Wanderer auf ihrem Weg durch den Trossachs erwartet, beschreibt der britische Journalist Daniel Graham folgendermaßen: „Im Frühling wachsen Ebereschen, knorrige Eichen und Birken auf einem dicken Teppich aus blauen Glockenblumen. Wenn die Sonne scheint, legt sich ein Marmormuster aus Licht und Schatten auf den Wanderweg.”
Aber der Trossachs kann auch anders. Es gibt Zeiten, da hat sich Ben Lomond, der mit 974 Metern höchste Berg der Region, in Nebel und Regenwolken gehüllt und lässt sich den ganzen Tag nicht blicken. Rund 30.000 Wanderer schaffen es trotzdem pro Jahr auf den Gipfel. Die Wanderung beginnt an einem Besucherzentrum an der Ostseite des Loch Lomond. Der Weg ist gut ausgebaut. Dafür sorgt an diesem Nachmittag auch wieder die freiwilligen Helfer. Auf den Knien sind die Ranger dabei, Steine neu zu verlegen und Markierungen nachzuzeichnen. Die hohen Besucherzahlen nutzen den Weg schnell ab und machen die Ausbesserungsarbeiten notwendig.
Dass so viele Menschen den Nationalpark nutzen, macht Probleme. Eines davon ist die Müllbeseitigung. An der Ostseite des Sees wurde das wilde Zelten, das sonst fast überall in Schottland erlaubt ist, inzwischen stark eingeschränkt.
Denn der Nationalpark ist mehr als ein Naherholungsraum für gestresste Großstädter. Im Trossachs wächst allein ein Viertel aller wilden Pflanzenarten, die es in Großbritannien gibt. Der britische Vogelschutzverein Royal Society for the Protection of Bird (RSPB) betreibt im Park mehrere Naturpfade und Umweltschutzprojekte.
Bei der Ortschaft Gartocharn beispielsweise tritt der Fluss Endrick regelmäßig über die Ufer und sorgt für ein Ökosystem aus Marschen und Feuchtwiesen. Seit 2012 kümmern sich die Vogelschützer in Gartocharn um Feldlerchen, Fischadler und die arktischen Gänse, die in Schottland überwintern.
Doch das Ökoprojekt der Vogelschützer ist längst nicht das einzige im Park. Westlich der Ortschaft Callander liegt das Tal Glen Finglas. Es ist Teil eines Wiederaufforstungsprojekts, das von seiner Größe her mit der Grundfläche der Stadt Glasgow vergleichbar ist. „Es ist eines der ehrgeizigsten Renaturierungsprojekte, das es derzeit in Schottland gibt”, sagt George Anderson von der Umweltorganisation Woodland Trust.
Früher gab es in Glen Finglas dichte Mischwälder aus Eichen, Haselnussbäumen, Birken und Weiden. Doch diese Wälder sind fast komplett verschwunden. „Nur vereinzelt sind noch große alte Bäume zu sehen. Sie sehen aus wie lebende Skulpturen aus einer vergangenen Epoche”, sagt Anderson. Umweltschützer haben bereits eine Million junger Bäume neu gepflanzt. Bis zum Jahr 2050 sollen rund 50 Prozent bis 70 Prozent der gesamten ausgewiesenen Fläche mit Wald bedeckt sein. Derzeit sind es nur 25 Prozent.
Der Ranger Derek kennt diese Projekte natürlich. Aber er hat auch noch seine eigene Mission. Dazu schnappt er sich an einem Sommerabend einen Campinghocker und macht es sich in der einbrechenden Dämmerung gemütlich. Denn wenn es über dem Loch Lomond allmählich dunkel wird, wachen die Fledermäuse auf.
Eine nach der anderen schlüpft aus ihrem Versteck. Derek sitzt dann auf einem Campinghocker und greift nach seinem Bleistift. Er notiert, wie viele Fledermäuse sich nachts aus ihrer Höhle wagen und im Trossachs auf die Jagd gehen. Die Fledermäuse huschen nach draußen, drehen eine Runde über seinem Kopf und sausen dann als kleine Schatten über die helle Wasseroberfläche des Sees davon.
Man könnte meinen, Derek mache seine Notizen in der Einsamkeit eines fast 2000 Quadratkilometer großen Naturreservats. Doch das ist nicht so. „`n Abend”, schallt es hinter ihm. Ein Herr in Badeschlappen und mit einem Handtuch in der Hand ist auf dem Weg zum Badestrand. Derek nickt einen kurzen Gruß zu dem Camper hinüber.
Während er sich um den Artenschutz der Fledermäuse kümmert, haben Feriengäste nebenan am Ufer des Sees ihre Zelte aufgeschlagen.
Die Szene vom Campingplatz am Ufer des Loch Lomond ist zwar nur eine Momentaufnahme. Doch sie ist typisch für den Trossachs Nationalpark. Tourismus und Umweltschutz haben sich quasi nebeneinander eingerichtet. Obwohl Fledermäuse und Campingurlauber doch eigentlich keine idealen Nachbarn sind. Denn wenn die einen schlafen, sind die anderen unterwegs. Aber Derek meint, beide Seiten mache die Nähe zueinader nichts aus. Sie kommen gut damit zurecht.