Köstliche Stille

Zu Fuß die Hebriden erkunden: Unsere Autorin Kathi Kamleitner ist alleine den 250 km-langen Fernwanderweg Hebridean Way gegangen und sagt: Die Einsamkeit war ein Abenteuer.
19. Dezember 2024
Lesezeit: 10 Minute(n)

Mein Plan: Alleine wandern. Nach mehreren Fernwanderungen mit erfahrenen Wanderführern hatte ich beschlossen, das nächste Abenteuer alleine anzugehen. Der Hebridean Way wollte es sein, eine zweiwöchige Wanderroute über die Äußeren Hebriden, die westlichste Inselkette Schottlands. Freunde und Familie hatten Bedenken. “Ganz alleine?”, fragten sie, als ich von meinen Plänen erzählte. “Hast du keine Angst vor wilden Tieren, oder dass Dir langweilig wird, wenn Du alleine wanderst?” Immer wieder hörte ich diese und ähnliche Sorgen. Auf sich allein gestellt mehrere Tage auf abgelegenen Pfaden zu wandern, das ist auch oder gerade im 21. Jahrhundert ein ungewöhnliches Vorhaben.

Dabei ist Schottland ein ideales Reiseziel für Alleinreisende: Die Menschen sind freundlich und hilfsbereit. Wer auf Nummer Sicher gehen und außerdem lange Wartezeiten an zugigen Bushaltestellen vermeiden will, nimmt sich einen Mietwagen. Ohne mich von den Zweifeln beeinflussen zu lassen, machte ich mich also auf den Weg an den nord-westlichen Rand von Schottland. Das Abenteuer konnte beginnen.

Der Hebridean Way ist seit Jahren ein beliebtes Urlaubsziel für Radfahrer, seit 2018 kann man die Strecke auch offiziell zu Fuß in Angriff nehmen. Der Weg ist von der Insel Vatersay im Süden bis zur Stadt Stornoway im Norden ausgeschildert und führt über 250 Kilometer vorbei an Bergpfaden, Küstenwegen, Sandstränden und Moorlandschaften. Dabei lernen Wanderer insgesamt zehn Inseln der Äußeren Hebriden kennen: Von Vatersay und Barra geht es über Eriskay, South Uist, Benbecula, Grimsay, North Uist und Berneray nach Harris und Lewis. Die meisten der Inseln sind durch Dammstraßen verbunden, doch zwischen Barra und Eriskay und Berneray und Harris pendeln kleine Fähren, die zu den reizvollsten Bootsverbindungen in Schottland zählen.

Die südlichste Dammstraße von Vatersay nach Barra ist besonders interessant. Ohne sie wäre die kleine Insel heute wohl so gut wie unbewohnt. Bis die Verbindung in den frühen 1990er Jahren eröffnet wurde, gab es nur eine kleine Passagierfähre. Für größere Lasten mussten Boote angeheuert werden. Rindvieh, dass zum Markt gebracht werden sollte, musste die 250 Meter über den Sound of Vatersay nach Barra schwimmen! Auch Wanderern erleichtert die kurze Dammstraße heute den Weg.

Die Äußeren Hebriden liegen weit abseits der typischen Touristenpfade in Schottland. Um an den Anfang des Hebridean Way zu gelangen, musste ich erst die fünfstündige Fährfahrt von Oban zum Hafen von Castlebay überstehen – eine unbequeme Angelegenheit bei Sturm und hohem Wellengang. Es gibt auch Flüge von Glasgow nach Barra, doch ich entschied mich für die langsamere Variante mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Auf der Insel angekommen, checkte ich in eine gemütliche Jugendherberge ein und mischte mich in der beliebten Hotelbar unter die Einheimischen. Mit einem Bier in der Hand, lauschte ich der Livemusik – doch schnell versank ich in Gedanken und stellte mir vor, wie der erste Wandertag wohl sein würde.

Ich hatte vor, den Hebridean Way in zwölf Tagen zu wandern und plante zwei Pausentage ein; einerseits um mehr von den Inseln sehen zu können und andererseits natürlich, um meinen Beinen eine Pause zu gönnen.

Obwohl es viele Unterkünfte entlang der Strecke gibt, hatte ich meine Campingausrüstung dabei, um komplett unabhängig zu sein und dort zu übernachten, wo es mir am besten gefiel. Mein Rucksack war schwer, aber meine Motivation umso größer.

Nach einer entspannten Nacht in der Herberge machte ich mich auf den Weg nach Vatersay – dem offiziellen Startpunkt des Wanderweges. Das Wetter spielte schon einmal nicht mit. Es regnete, der Nebel hing tief und von dem atemberaubenden Sandstrand auf Vatersay sah ich nicht viel. Das konnte ja spannend werden. Aber wer kommt schon des Wetters wegen nach Schottland?

Nach wenigen Minuten kam ich an der ersten von vielen historischen Stellen der Äußeren Hebriden vorbei. Am Abend des 12. Mai 1944 verunglückte ein Flugzeug der Royal Airforce bei einem Übungsflug über Vatersay. Nur sechs der neun Besatzungsmitglieder überlebten den Absturz. Teile des Wracks liegen bis heute am Hang der Insel und ein Denkmal erinnert an die Männer an Board.

Ich ließ den befestigten Weg nun hinter. Es ging querfeldein über einen sumpfigen Hang. Die Wegweiser waren im Nebel kaum sichtbar. Das Wanderbuch sagte dazu: der erste Tag des Hebridean Way ist auch der anstrengendste. Und wie das stimmte. Als ich endlich auf der anderen Seite der Insel zur Küste abstieg, hob sich die Wolkendecke, und für eine kurze Zeit kam sogar die Sonne heraus. Endlich konnte ich mit eigenen Augen das berühmte türkisfarbene Wasser der Hebriden sehen.

Ähnlich abwechslungsreich ging es die nächsten Tage weiter. Ich wanderte von Insel zu Insel. Ich schlug mein Zelt da auf, wo die Aussicht besonders schön war. An besonders verregneten Tagen suchte ich in gemütlichen Jugendherbergen Zuflucht. Auf South Uist campierte ich zunächst nahe der Ruine von Flora McDonalds House.

Flora ist in Schottland eine Legende, weil sie dem schottischen Prinzen Bonnie Prince Charlie zur Flucht vor den Engländern verhalf. Bonnie Prince Charlie hatte im 18. Jahrhundert versucht, den Thron für seine Familie zu erobern – und war kläglich gescheitert.

Langsam kam Routine auf. Aufstehen, Frühstücken, Camp abbauen, und los ging es. Alle ein bis zwei Stunden machte ich Pause, um meinen Rücken zu entlasten und die Landschaft zu genießen. Am Ende des Tages sah ich mich um einen geeigneten Schlafplatz um, kochte auf meinem Campingkocher das Abendessen und schrieb meine Gedanken des Tages in ein Notizbuch nieder.

Wandern entschleunigt, und alleine zu wandern verstärkt dieses Gefühl immens. Obwohl der Hebridean Way immer mehr an Popularität zunimmt, begegnete ich erstaunlich wenigen anderen Wanderern. Dafür traf ich fast täglich auf Radfahrer, viele davon mehrmals auf verschiedenen Campingplätzen und Jugendherbergen. Sie waren meine Hebridean Way-Familie und so sehr ich es genoss, alleine zu wandern, war es schön immer wieder bekannte Gesichter zu sehen.

Eine Begegnung, die mir besonders in Erinnerung blieb, war mit Andrew, einem älteren Herren, der ebenso alleine wanderte. Andrew holte mich auf North Uist ein, als ich an einem prähistorischen Steinkreis Pause machte. Gemeinsam entdeckten wir umgefallene Steine im wuchernden Farn und liefen schließlich gemeinsam bis nach Lochmaddy. Wir unterhielten uns über die schwierigsten Abschnitte der letzten Tage und teilten unser Leid – aber auch unsere Freude. „Alleine kann ich den Weg in meinem eigenen Tempo wandern,“ erzählte mir Andrew, der anstatt zu campen am Ende der Tagesstrecken immer mit dem Bus zu einem nahegelegenen Hotel fuhr. Ich hoffe, dass auch ich in Andrews Alter noch solche Abenteuerreisen planen werde.

Das Wetter hatte – typisch schottisch – von strahlendem Sonnenschein bis zu starkem Wind mit Regen alles zu bieten. Die Landschaft wechselte sich ab; von den Bergen auf Barra zu den endlosen Sandstränden an der Westküste von South Uist. Von den Hügeln auf der Insel Benbecula konnte ich bis nach Skye und weiter zu den Bergen des Festlands sehen. Der Weg führte mich tagelang durch die blühenden Blumenwiesen, die Machair heißen und die man nur an der Westküste von Schottland und Irland findet.

Auf Holzstegen und erhöhten Torfpfaden balancierte ich über dunkles Moor. Auf Harris überquerte ich Berge und wanderte entlang zerklüfteter Küsten. Landschaftlich ist der Hebridean Way kaum zu übertreffen, doch gleichzeitig war ich dem wilden Wetter der Atlantikküste oft hilflos ausgesetzt. Plötzlich fühlte ich mich ganz klein und war dennoch dankbar dafür, Schottland so intensiv erleben zu dürfen.

Mein letzter Wandertag auf dem Hebridean Way war besonders zehrend. Auf der einen Seite wollte ich nicht wirklich, dass die Reise zu Ende ging. Nach fast zwei Wochen alleine mit meinem Rucksack, war ich emotional noch nicht bereit, wieder in die Zivilisation zurück zu kehren. Andererseits war die Wegführung an diesem Tag unglaublich anstrengend: erst ging es stundenlang auf Torfpfaden durch ein windiges Moor, dann 15 Kilometer auf einer Asphaltstraße bis in die Ortsmitte von Stornoway – nicht der angenehmste Untergrund zum Wandern!

Als ich mit schmerzenden Füßen und neuen Blasen die Straße entlang lief, sah ich plötzlich ein Fahrrad am Horizont. Das alleine war an sich nicht ungewöhnlich – doch diese Radfahrerin schien langsam auf mich zu zu kommen. Und siehe da – es war Barbara, eine der Holländerinnen, die ich auf North Uist und dann noch einmal auf Berneray getroffen hatte! „Du hast es fast geschafft,“ rief sie mir aufmunternd zu. Ich zwang mich zu einem müden Lächeln – das ist leicht gesagt auf einem Fahrrad. „Ich habe mich gestern in Wind und Wetter bis an den Butt of Lewis durchgekämpft,“ erzählte mir Barbara. Das ist der nördlichste Punkt der Insel und auch der offizielle Endpunkt des Hebridean Way-Radwegs.

Heute war sie auf dem Weg zu den Callanish Standing Stones, dem berühmtesten Steinkreis der Äußeren Hebriden. Warum die Steine dort aufgestellt wurden, ist bis heute ein ungelöstes Rätsel, doch die präzise Ost-West-Ausrichtung der Steine verweist auf einen klaren Bezug zum Lauf der Sonne, während die Bahn des  Mondes alle 19 Jahre der Silhouette der umliegenden Hügel folgt. Der Legende nach ist Callanish der Ort, an dem der Mond die Erde besucht, um mit ihr zu tanzen. Der Wanderweg führt zwar nicht direkt an Callanish vorbei, doch ein Besuch der Kultstätte ist sehr einfach mit dem Bus möglich – und empfehlenswert!

Doch ich begebe mich nun erst einmal auf die Zielgerade. Barbara hatte recht – ich hatte es fast geschafft. Mit einem lachenden und einem weinenden Auge traf ich in Stornoway ein, durchquerte den Park von Lews Castle und erreichte somit den offiziellen Endpunkt des Hebridean Way für Wanderer. Die Tränen zurückhaltend, bat ich eine Passantin, ein Foto von mir zu machen und erzählte ihr, dass ich die letzten zwei Wochen von Vatersay bis hierhin gewandert war. „Ach wirklich, ganz alleine?“ fragt sie mit einem anerkennenden Staunen in Gesicht. „Das muss ja ein tolles Abenteuer gewesen sein.“ Und ja, ganz genau – das war es!

Das sollten Sie wissen

Der Hebridean Way ist ein Fernwanderweg für erfahrene Wanderer. Der Weg ist gut ausgeschildert und das Navigieren mit dem Kompass ist nicht notwendig. Doch man braucht eine gewisse Erfahrung mit der täglichen Routenplanung und gegebenenfalls Praxis im Wildcampen, da es nicht immer passende Unterkünfte am Ende von Tagesstrecken gibt.

Das Calmac Hopscotch Ticket 8 enthält die vier notwendigen Fährverbindungen: von Oban nach Castlebay, Barra nach Eriskay, Berneray nach Harris und Stornoway nach Ullapool. Die Zug- und Bustickets nach Oban bzw. von Ullapool nach Inverness und weiter nach  Glasgow oder Edinburgh sollten auf jeden Fall im Vorhinein gebucht werden.

Der Cicerone-Wanderführer und die offizielle Hebridean Way Wanderkarte sind unverzichtbare Helfer, um entlang der Strecke stets den nächsten Supermarkt, Campingplatz oder die nächste Bushaltestelle zu finden.